Manuskript einer Radiosendung für den RBB, 16.4.2007
© Claudia Lenssen

O-Ton S.B.:
Mein großer Traum ist eigentlich, ein richtig berühmter Schauspieler zu werden und vielleicht sogar mal den Oskar zu kriegen. Und ich will vielleicht sogar gerne auf eine englische Filmschule gehen, wenn ich größer bin, und will dann gerne .. also weil man eigentlich fast nur in England sehr berühmt werden kann.
O-Ton G. B.:
Mein Kind ist ungefähr so: Die hat einen ganz starken Motor und fährt Dreirad. Und beim Film kann sie mit dem Motor auf der Rennstrecke fahren. So ist das ungefähr. Die brauchen einfach die Anregung, das Gefordertsein, die Herausforderung, weil: die brauchen was zum Arbeiten.
O-Ton A. G.:
Es gibt ja diesen berühmten Satz: Kinder und Hunde binden positive Energien. D.h. hast Du ein Tier und ein Kind in deinem Film, dann verlassen dich die Zuschauer nicht so schnell

Lenssen:
Kinder waren im Kino immer ein Erfolg. Man denke an „Die kleinen Strolche“, an Chaplins berühmten Film „The Kid“, an Shirley Temple, den kleinen Muck, das doppelte Lottchen. Seit bald fünf Filmen in Serie ist der Zauberlehrling Harry Potter das Idol aller Kinder, die in den neunziger Jahren geboren sind. Kinderklassiker wie „Pünktchen und Anton“, „Bibi Blocksberg“ und „Oliver Twist“ gehören in Deutschland ebenso wie die Serie der Cornelia Funke-Verfilmungen „Die wilden Hühner“ zu den Kinohits. Jeden Tag tummeln sich zudem Kinder jeder Altersstufe in Serien, Fernsehspielen und im Kinderkanal.
Gemessen am bewährten Erfolg von Kindern in der Filmgeschichte sind heute vielleicht nicht mehr von ihnen als früher auf der Leinwand präsent; zählt man jedoch die diversen Fernsehprogramme hinzu, dann scheint  klar, dass eine Filmrolle heute kein exotischer Wunschtraum bleiben muss.
Die Berliner Regisseurin Aelrun Goette hat neben Dokumentarfilmen, die sich mit heiklen Beziehungen zwischen Kindern und ihren Familien beschäftigen, auch einen Spielfilm um eine kindliche Schuldverstrickung gedreht. Sie sieht das Medieninteresse an Kindern nüchtern:

O-Ton Goette:
In den Zeiten, die wir im Moment haben, ist es so, dass das Fernsehen nach positiven Stoffen und guten Energien schreit, d.h. mehr Hunde und mehr Kinder, also ist das natürlich das was kommt, und was boomt. Also gibt es auch, das kann man schon sagen, ’ne größere Aufmerksamkeit und also auch Leute, die daran mitverdienen wollen.

Lenssen:
Wie wird man heute ein Filmkind? Was müssen Kinder mitbringen, um in der Medien- und Modewelt zu bestehen? Gudrun Bahrmann, Theaterpädagogin und Kinderbetreuerin bei Filmproduktionen, meint dazu:

O-Ton Bahrmann:
Dieser Wunsch berühmt zu werden, hat ja nichts anderes damit zu tun als „Ich will gesehen werden.“ Das ist ja so ein übersteigerter Wunsch. Jeder von uns will gesehen, wahrgenommen werden. Wenn man Star ist, glaubt man, wenn man von ganz Vielen wahrgenommen wird, dass man ganz besonders wichtig ist. Ich glaub’, das spielt auch rein, aber diese Lust zu spielen, sich die Dinge vorzustellen, diese Versuche zu machen, und andere Leben auszuprobieren, ich glaube, die muss auch da sein.

Lenssen:
Als die schwedische Schauspielerin Inger Nilsson  auf dem Filmfestival in Münster von ihrer Entdeckung und ihrer Rolle als Pippi Langstrumpf erzählte, wurde Eines deutlich: Auch wenn der erste Schritt von den ehrgeizigen Eltern getan wird, fangen begabte Kinder meist Feuer für die besondere Atmosphäre am Drehort. Er ist ein großer Spielplatz und zugleich ein Ort strenger Anweisungen von den Erwachsenen. Spielen und Arbeiten waren dasselbe für Inger Nilsson:

O-Ton Inger Nilsson:
Ich war mir sehr bewusst, dass ich einen Film drehte, ich war immerhin acht. Wenn ich mich mit den anderen Kinderdarstellern verglich, war ich älter, sie nur fünf oder sechs. Sie erinnern sich nicht mehr an viel. Aber ich war mir bewusst, dass dies ein Filmset war. Ich dachte nicht, wow, ich schauspielere jetzt, ich bin etwas Besonderes, eine richtige Schauspielerin. Es war eher ein neues spannendes Spiel mit netten Erwachsenen, die mit uns arbeiteten.

Lenssen:

Inger Nilssons Geschichte begann typisch. Auch bei ihr ging die Initiative von den Eltern aus. Sie wurde durch eine Suchanzeige im schwedischen Fernsehen entdeckt. Ihre Eltern sandten ein Foto von ihr nach Stockholm, woraufhin der Regisseur in ihr Heimatdorf reiste, um sie kennen zu lernen.
Heute hat sich die Situation für Eltern und Kinder geändert. Die stetig wachsende Nachfrage verschafft immer mehr Kindern Filmrollen, Fotoshootings und Werbefilmauftritte. Das ist aber nur auf den ersten Blick eine gute Chance, entdeckt zu werden. Der Zufall spielt kaum mehr mit. Eine wachsende Zahl von interessierten Kindern und ihre Eltern lässt sich in Agenturen aufnehmen. Cindy Jeme hat sich mit ihrer Berliner Agentur Cool Kids auf solche Kinder spezialisiert.

O-Ton Cindy Jeme:
Ich denke, es gibt heute genau so wie vor zwanzig Jahren Ausnahmeerscheinungen, die einfach dafür geboren sind. .. Aber es ist eben dadurch, dass die Kinder etwas aufgeschlossener mit den Medien groß werden, dass es ein paar mehr geworden sind…
Es ist wirklich gedacht für die Kinder, die sehr extrovertiert sind, die sich gerne vielleicht auch im Film sehen wollen, denen es Spaß macht sich zu zeigen…Die wollen wir ansprechen  und die suchen wir auch und nicht die, die sich das vielleicht nur denken. .. sondern die Kinder, die sagen: Was kostet die Welt, ich bin dabei.

Lenssen:
Cool Kids ist eine der in Deutschland etablierten Kinderagenturen, die den Nachwuchs vom Babyalter bis zur Volljährigkeit an Filmproduktionen vermitteln. Für 15 Euro werden Jungen und Mädchen in die Kartei aufgenommen. Ihre Eltern lassen Fotos machen und erste Talentproben auf Video aufzeichnen. Wenn eine größere Produktionsfirma Kinder für ein bestimmtes Filmprojekt sucht, beauftragt sie meist eine Castingagentur, die ihrerseits bei den Schauspielagenturen nach möglichen Kandidaten Ausschau hält. So folgt auf das erste Casting bald ein zweites und so fort – immer wieder, bis der Wettbewerb gewonnen oder verloren ist. Das Casting ist die Eintrittsschwelle, kein Kind kommt darum herum – früh machen schon Kinder Erfahrungen, wie sie heute auf dem Arbeitsmarkt üblich sind. Cool Kids nahm an einer schwierigen Prozedur teil:

Cindy Jeme:

Das größte Casting, vom dem wir gehört haben, bei dem wir auch mitgemacht haben, das war damals bei „Anton und Pünktchen, die Mädchenrolle. Da soll die Caroline Link insgesamt 2000 Mädchen gecastet haben in ganz Deutschland, um sich dann für eine einzige zu entscheiden. Das hieß also wirklich für tausendneunhundertneunundneunzig: Tut uns Leid. Aber die Grenze war dann wohl bei diesen 2000, sonst wär’ der Film vielleicht heute noch nicht gedreht… Desto aufwändiger die Produktion ist, desto aufwändiger ist auch das Casting. Grade, wenn es um ’ne Hauptrolle geht. Dann kann es schon sein, dass drei, vier Castings hintereinander laufen, erst mal vielleicht ein ganz normales Vorstellungscasting, ein Improvisationscasting, dann beim nächsten Mal ist manchmal schon jemand von der Produktion dabei, der sich das anguckt, dann gibt es schon bisschen Text…Dann beim nächsten Mal ist vielleicht schon der Produzent dabei. Dann geht es weiter, der mit dem und der mit dem. Bis dann letztendlich die Wahl getroffen wird.

Lenssen:
Das Casting erleichtert dem Regisseur die Wahl. Es hilft seiner Produktionsfirma, das unübersichtliche Angebot an viel zu vielen bereitwilligen Talenten auszusieben. Casting ist zu einer Institution, einem Zeitgeistphänomen, geworden, seit das Fernsehen die Talentwettbewerbe zum Showformat aufgewertet hat und jeder kleinen Ich-AG unter den Teilnehmern eine Karrierechance verspricht. Cindy Jeme beschreibt die  Rückwirkungen dieser Illusionsmaschine auf ihr Geschäft:

Cindy Jeme:
Es ist ja heute wirklich so durch diese ganzen Castingsendungen und was so vermittelt wird: Jeder kann irgendwas erreichen, ob er was kann oder nicht. Das wird durch die Medien erst mal so vermittelt. Solche Beispiele und Vorbilder wie von Daniel Küblböck, der in der Weltgeschichte rummrennt und jeder sagt, du musst nichts können, du musst dich nur  trauen. Dadurch hat es schon so weit überhand genommen, dass so viele Kinder der Meinung sind, ich mach das, dass die Produktionen natürlich auch ne Riesenauswahl haben und das eine oder das andere mal sagen: Dann nehmen wir das Kind, das vielleicht ein bisschen weniger Talent hat, aber wir kriegen’s billiger, da steckt vielleicht keine Agentur dahinter, die Eltern haben keine Ahnung von Verträgen, haben wir auch schon erlebt. Das ist vielleicht jetzt durch dieses Überangebot an Kindern schlimmer geworden.

Lenssen:

Der elfjährige Sammy Benke hat das Filmen mit und ohne Testlauf durch ein Casting kennen gelernt. Beim ersten Mal, bei den Dreharbeiten zu Leander Haussmanns „Sonnenallee“, hat er Lust aufs Filmen bekommen.

Samuel Benke:
Und da war ich ja ein ganz kleiner Komparse, ein ganz kleiner Pionier, und das hat mir Superspaß gemacht, obwohl es eiskalt war und nur ganz wenige Drehtage waren. Das fand ich total klasse und wollt es ja dann weitermachen. Ich hatte dann halt mehrere Komparsenrollen, also kleine Rollen, dann hatte ich kleine Sprechrollen und dann zwei, drei große Rollen in Filmen und in Serien.

Lenssen:
Wenn Sammy Benke bei einem Casting vorspricht, dann spielt er eine kurze Textpassage, bei der ihm die Agentin Stichworte gibt:

Sammy Benke:
Wenn Sie meinen Vater suchen, der ist in Berlin. Partnerin: Ja ich weiß, ich hab ihn getroffen. Du bist bestimmt Neo. Sammy: Was hast Du denn gedacht? Partnerin: Und wo kommst Du jetzt her? Sammy: Unser Vater hat Dir aber nicht viel erzählt. Wir waren im Camp, im Krüger-Nationalpark. Partnerin: Ich muss dir was sagen: Euer Vater hatte einen Unfall – mit dem Auto. Sammy: Unser Vater macht keine Unfälle. Warum sagst Du das?

Sammy Benke:
Ich hab jetzt kein Lampenfieber mehr, ich bin jetzt meistens sehr gelassen. Aber man hat immer ein gewisses Stück Lampenfieber, was auch sehr gut ist, sonst strengt man sich nicht an und will richtig alles machen, was man kann. Und für mich heißt es halt einfach immer wieder, immer wieder, immer wieder. Und wenn du dann nicht genommen wirst, dann darf man sich nichts draus machen  und muss einfach immer das nächste Casting weiter versuchen.

Lenssen:
Von dem was ein Kind mitbringen muss, wenn es das lästige Casting hinter sich hat und endlich unter Erwachsenen am Drehort mitmischen kann, davon hat die Betreuerin Gudrun Bahrmann präzise Vorstellungen.

O-Ton Gudrun Bahrmann:
Die sind ja nach Typ gecasted, diese Kinder. Und der Regisseur will ja eigentlich nichts anderes, als dass dieses Kind diese Rolle auf seine Weise spielt. Die Figur muss ja lebendig werden. Die Figur wird ja lebendig durch das gecastete Kind. Und das Kind verborgt ja seinen Köper an die Figur. Damit es authentisch wirkt, muss man natürlich auch seine Gedanken und Gefühle verborgen. Also dieses Kind wird zu der Figur, das verschmilzt. Obwohl das Kind immer weiß, ich spiel das bloß. Aber es gibt sich ganz rein. Und dann ist es auch überzeugend für den Zuschauer, ganz glaubwürdig oder authentisch, wie man immer so schön sagt. Aber ich muss dafür sorgen, dass dieser Junge sich der Figur verschenkt, damit er so lebendig bleibt, wie er beim Casting aufgefallen ist.

Lenssen:
Für ihren ersten Spielfilm „Unterm Eis“ erhielt Aelrun Goette die renommiertesten deutschen Fernsehpreise, den Preis des Südwestrunfunks und den Grimme-Preis. „Unterm Eis“ erzählt von einem siebenjährigen Jungen, der im Spiel den Tod seiner gleichaltrigen Spielkameradin verursacht.

O-Ton  Szene aus „Unterm Eis“


Lenssen:

Aelrun Goette arbeitete wegen des schwierigen Themas mit Gudrun Bahrmann zusammen. Der siebenjährige Adrian Wahlen wurde vorbereitet und während der Dreharbeiten emotional aufgefangen, um ihm die Verarbeitung der Konflikte innnerhalb der dramatischen Geschichte und die Spannung zwischen der Rolle und ihm selbst zu erleichtern. Solch eine theaterpädagogisch begründete Arbeit ist mehr als Betreuung, sie umfasst ein intensives Coaching des Kindes. Gudrun Bahrmann las das Drehbuch mit ihm, schrieb Tagebuchnotizen für ihn auf und schloss sogar einen Pakt mit ihm, der allen Beteiligten eine gute Zusammenarbeit ermöglichen sollte. Hier ein Ausschnitt aus dem Vertrag.

O-Ton Gudrun Bahrmann:

„Adrian verpflichtet sich, bei Vorbereitungen, Proben und Dreharbeiten allen Anweisungen des Teams Folge zu leisten. Das heißt auch, alles auszuprobieren, was die Regisseurin und der Kameramann, die Schauspielerkolleginnen und -kollegen , der Regieassistent, Kostüm- und Maskenbildner, der Fotograf, der Coach, der Aufnahmeleiter für eine glaubwürdige und spannende Umsetzung der Geschichte vorschlagen. Die Regisseurin verpflichtet sich, einen spannenden Film zu machen, bei dem die Zuschauer eine Gänsehaut kriegen und über sich, ihr Verhältnis zu ihren Mitmenschen, vor allem über ihr Verhältnis zu ihren Kindern nachdenken.“ Das wollte die Regisseurin. Dazu brauchte sie a. Adrian mit dieser Haltung, weil es ganz wichtig ist, dass die Kinder vorher wissen, Du musst es tun. Jetzt kannst es Dir noch überlegen.

Lenssen:

Das Team um Regisseurin Aelrun Goette und Gudrun Bahrmann traute dem kindlichen Hauptdarsteller von „Unterm Eis“ viel zu.

O-Ton Goette:

Ich habe im Zusammenhang mit diesem Film auch mit einem Kindercoach gesprochen, der mir von seiner Arbeit erzählt hat. Er würde, wenn schwierige Szenen zu drehen seien, den Kindern eine Geschichte erzählen und nicht wirklich sagen, worum es ginge. Das ist etwas, was ich ablehne. Ich weiß, dass Kinder in der Regel sehr viel mehr wissen, als was man selber als Erwachsener glaubt, und die sehr häufig unterschätzt und dass sie häufig auch ein Spiel mit einem spielen. Und das kann fatal sein, wenn den Kindern, grade wenn es um Themen wie Gewalt geht, nicht klar ist, worum es geht und wie man damit umgeht… Aber man muss auch natürlich aufpassen, dass man nicht diesen entgegen gesetzten Fehler macht, und die Kinder überbetreut und ihnen zu wenig zutraut oder sie aufgrund von Zeitdruck zuschüttet mit irgendwelchen positiven Liebesenergien oder scheinbaren Liebesenergien, damit sie dann schnell funktionieren. Das machen die natürlich nicht.

Lenssen:
Eine „Blackbox“ nennt die Regisseurin Kinder im Film, weil man nie sicher sein kann, was sie als Nächstes machen und was in ihnen vorgeht. Viele Erwachsene, vermutet sie, haben davor Angst. Sie war sich allerdings bewusst, dass kindliche Starallüren ihre Autorität angreifen.

O-Ton Goette:
Wir hatten ein Klo am Set und unser junger Hauptdarsteller, der Adrian, stand in der Schlange am Klo und drängelte sich vor und stellte sich vorne hin und sagte, ich bin Schauspieler: Ohne mich geht hier gar nichts. Da sagte der Tonmann, der hinter ihm stand: Und ich bin der Tonmann und wenn ich den Ton nicht anmache, dann hört man dich gar nicht. Also stell dich schön hinten an. Ist etwas, was wir alle gemacht haben am Set… Das ist das was Kinder brauchen genauso wie alle anderen Kinder auch.

Lenssen:
Der elfjährige Sammy wird von seinen Eltern beraten, wenn es um eine Rolle geht. Er überlegt sich genau, wann er ablehnt. Sein Vater Jürgen Seidler, will nicht um jeden Preis eine Filmkarriere forcieren.

O-Ton Jürgen Seidler:

Wir hatten schon solche Situationen. Und wir haben darüber gesprochen. Samuel hatte ein Angebot für eine Rolle, die etwas sehr Dunkles hatte, eine sehr tragische rolle und er hat sich dann gegen diese rolle entschieden, weil er gespürt hat, da geht etwas über eine bestimmte Grenze, die er im Moment nicht überschreiten möchte.

Lenssen:
Sammy erzählt, warum er das Drehbuch nicht akzeptieren mochte:

O-Ton Sammy:
Es war eine Rolle für „Die Luftbrücke“…da sollte ich meine Mutter beleidigen mit schlimmen Schimpfwörtern. Da war ich auch noch kleiner. Und das wollte ich einfach nicht machen… Man muss sich das vorstellen können und wenn man sich das vorstellt, dass man die Mutter beleidigt, ist das schlimm. Die Rolle wurde dann von einem kleineren Jungen übernommen, der noch gar nicht wusste, was solche Schimpfwörter bedeuten und keine Vorstellung hatte, was er in diesem Film eigentlich sagt.

Lenssen:
Krimis, Thriller, Action – das Fernsehen ist voll davon. Wenn Kinder darin ihre Rollen spielen, kann man sich fragen, welche Spuren diese brutale Art der Unterhaltung bei ihnen hinterlässt. Jürgen Seidler, der Vater von Sammy Benke, sieht nicht so schnell eine Gefahr für seinen Sohn. Er hat ein Beispiel für eine Situation parat, in der Sammy eine Kriegsgeschichte und die Folgen von Gewalt eher als filmtechnisches Abenteuer einordnete.

O-Ton Seidler:
Es ist natürlich schon so, dass das Fernsehen mehr auf Drama setzt und mehr auf Schauwert. Ich glaube aber, dass Kinder in einem gewissen Alter, so ab 11,12 Jahren sehr genau wissen, was sie da spielen, und sehr genau wissen, wenn sie etwas spielen und wann es Wirklichkeit ist. Dieses Unterscheidungsvermögen ist vorhanden. Wir hatten bei einem Film eine Erfahrung, da gab es eine Szene, die in gewisser Weise actionreich war, aber das war auch interessant, wenn als Darsteller dann auch Aufgaben da sind, wo man einfach nur redet.

Lenssen:

Der Junge spielte ein kosovo-albanisches Kind, das durch eine Mine verletzt wurde. Wie dieses Als-Ob, die Illusion der Filmhandlung hergestellt wurde, interessierte ihn fast mehr als das Schicksal des Jungen in seiner Rolle. Die technische Begeisterung hilft ihm, sich von der Rolle zu distanzieren.

O-Ton Sammy:

„In aller Freundschaft“ hieß das, das war eine Serie, da war ich einmal, das fand ich wahnsinnig klasse, als ich dann künstliches Blut und künstlichen Dreck .. alles voll mit künstlichem Blut geschmiert wurde und ein richtiger Bombenleger kam, extra für Filme, der das dann hochgehen ließ und es sah so aus, als wäre ich da mitten drin, das war klasse.

Lenssen:
In Deutschland müssen sich Filmproduktionen an relativ strenge Regelungen des Kinder- und Jugendschutzgesetzes halten. Kleinere Schauspielerkinder dürfen täglich maximal fünf Stunden am Set zubringen und drei Stunden vor der Kamera arbeiten. Diese Zeit reicht oft nur, um eine einzige Szene zu drehen. Unter dem Druck der knappen Budgets und der allgemeinen Anspannung neigen auch die kinderfreundlichsten Regisseure dazu, die Zeiten zu überziehen.
Und richtig unangenehm kann es für sie werden, wenn der Drehplan keine Rücksicht auf die Schulzeiten nimmt, wenn die Kinder im Schuljahr frei nehmen müssen, obwohl man sie doch hätte in den Ferien einsetzen können.
In Deutschland achten die Schulbehörden der Kinder, die Eltern – soweit sie informiert sind und nicht von zuviel Ehrgeiz getrieben  – die Agenturen und die guten Kinderbetreuer auf die Einhaltung der Bestimmungen, problematisch wird es dann, wenn Filmproduktionen sich darauf hinausreden, dass die deutschen Schutzregelungen am Drehort im Ausland nicht mehr für sie gültig sind. Auch Gagen – muss man wissen – sind verhandelbar: zwischen 150 und mehreren 1000 Euro pro Drehtag bewegt sich die Spanne je nach Rollenumfang, Produktionsbudget und Erfahrung des Kindes. Cindy Jeme nimmt für Cool Kids die Verhandlungen wahr, erhält einen Anteil von der Gage und fungiert auf dieser Basis als Beistand des Kindes:

O-Ton Jeme:
Wenn ein Kind in der Agentur gelistet ist, wie bei uns, …dann passen wir schon auf. Die Genehmigungen, dass die alle vorliegen. Dann verhandeln wir die Gagen, die Drehzeiten usw., betreuen das Kind während des Drehs, dass wir sagen, o.k. Eltern: Ruft an, egal was is’, sprecht uns an. Aber wenn …keine Agentur dahinter steht, die sich vielleicht auf ’ne Zeitung beworben haben …und keine Ahnung haben, von irgendwelchen Gagen und Gesetzen und Bestimmungen, haben natürlich die Produktionen .. absolut Freiraum. Wir haben es leider schon erlebt, dass der dann auch ausgenutzt wird.

Lenssen:
Was geschieht mit Filmkindern, die von ihren Fans mit ihrem Rollenmodell verwechselt werden? Inger Nilsson, dem schwedischen Zopfmädchen, das in dreizehn Fernsehfilmen und fünf Kinofilmen Pippi Langstrumpf war, ist das ein Leben lang nicht gelungen. Nicht die Schulkameraden fingen mit der Gleichsetzung an sondern die Medien:

O-Ton Inger Nilsson:
Das Problem waren all die Erwachsenen, die darüber schwätzten. Eine Menge Journalisten kamen in die Schule, ohne vorher anzurufen. Jeder wollte ein Foto von mir machen. Sie fragten die Lehrer, ob das o.k. wäre und die sagten ja. Es störte das normale Leben damals, weil es alle Leute um mich her daran erinnerte, dass etwas Besonderes mit mir war…Ich habe es satt, dass alle immer über Pippi reden wollten. Egal, was ich tat und unter welchen Umständen, das wichtigste in meinem Leben war Pippi und wird immer Pippi sein. Die Leute machten mir das klar, bis ich sagte: Nein, das war, als ich neun war. Es kann nicht die Hauptsache in meinem Leben sein. Lächerlich. Man kann jemandem nicht sagen, Du hast dein Bestes gegeben, als Du neun warst. Das kann man nicht zu einer Heranwachsenden sagen. … Wenn man es genau nimmt, klingt es wirklich verrückt.

O-Ton Musikmotiv Pippi, unter den folgenden O-Ton.

Lenssen:
Man kann nur spekulieren, ob Inger Nilsson im heutigen Netzwerk von Vermittlung, Beratung und Betreuung besser vor dem fatalen Markenzeichen Pippi Langstrumpf geschützt wäre. Die neue Dienstleistungsbranche, die rund um die ehrgeizigen Kinder gewachsen ist, kann gegen Bezahlung Talente ermutigen und fördern und im Einzelfall gegen Missbräuche vorgehen – ob daraus eine berufliche Karriere entsteht, bleibt oft genug nur ein Lotteriespiel.