Manuskript einer Radiosendung für den RBB, 6. Oktober 2007
© Claudia Lenssen,

Lenssen:
6. Oktober 1927, New York: Eintausendachthundert Zuschauer sind zur Premiere des Films „The Jazz Singer“ ins Warner Theatre gekommen. Al Jolson, ein beliebter Musicalstar,  ist auf der Leinwand zu sehen. Erzählt wird beinahe seine eigene Lebensgeschichte: Der Sohn eines Rabbis bekommt Streit mit seinem Vater, weil der ihn lieber als Kantor in der Synagoge sehen würde. Doch der Sohn will den Broadway-Erfolg. Als  Jazz-Singer kann er seiner Mama neue Kleider kaufen und den Umzug in ein besseres Viertel ermöglichen. Der Film feiert, wie ein junger Jude sich aus den orthodoxen Fesseln löst, beschwört die Integration in die amerikanische Moderne – beflügelt vom Jazz-Zeitalter.
Dieser Abend ist der Beginn der Tonfilmära. Das Publikum begeistert sich für Irving Berlins Lieder, für Al Jolsons Klaviergehämmer und seine Stakkato-Stimme. Zwischentitel wie bei den Stummfilmen üblich gibt es zwar auch noch im „Jazz Singer“, aber in einigen Passagen dringen Jolsons Laute lippengetreu  aus den Lautsprechern. Die Bilder hatten sprechen gelernt.

O-Ton 1 The Jazz Singer

„Blue Skies“ … See, Mama, I’ll buy you an new dress… I’ll do it jazzy …. All day long”

Lenssen:

Mit der Premiere von „The Jazz-Singer“ war der Siegeszug des Tonfilms nicht mehr aufzuhalten. Die neue Dimension im Kino war von nun an mit dem Lebensgefühl der Jazz-Ära verbunden – wenn auch in sentimentaler Form, biederer als viele der geistreichen frivolen Stummfilme der Zeit. Die Geschichte vom jüdischen Entertainer stellte Altes in Frage, obwohl mit steifen Theaterklischees erzählt. Das Rührstück mit flottem Gesang bot seinen Produzenten in dieser Mischung ein kalkulierbares Risiko, um endlich eine faszinierende neue Technik zu lancieren, an der schon lange in den Studios herumprobiert worden war und die viel Investitionskapital geschluckt hatte. Rainer Rother, Filmhistoriker und Direktor der Deutschen Kinemathek, über die Herausforderung, die der unerwartete Erfolg des „Jazz-Singers“ auch in Deutschland für die Ufa in Berlin und Babelsberg bedeutete:

O-Ton 2 Rainer Rother
Die Ufa hatte sich mit den Problemen des Tonfilms ja schon beschäftigt, hatte Probeaufnahmen gemacht, hatte diese neue Technik auch in einer ziemlich überzeugenden Form kennen gelernt, und sie hatten sich dann doch davon verabschiedet. Und zwar mit dem Gedanken, dass das die Internationalität und damit die Exportfähigkeit der eigenen Produkte natürlich schädige. Es ist viel leichter bei einem Stummfilm Zwischentitel zu übersetzen, als mit den wahren Tönen und der Sprache der Darsteller umzugehen. Deswegen war man eigentlich skeptisch. Und als dann in Deutschland der „Jazz Singer“ auch ein sehr großer Erfolg war, war klar, dass man reagieren musste. Es war tatsächlich das Gebot, nun zu handeln, entstanden.

O-Ton 3  Al Jolson, „Sonny Boy“


Lenssen:

Was über Nacht zum letzten Schrei wurde und die mächtigen Filmindustrien weltweit nervös machte, hätte lange schon die Norm im allabendlichen Spielbetrieb der Kinos sein können. Experimente und Patente zu Tonfilmtechniken existierten nämlich von Beginn an.
Auch das frühe Kino war nie wirklich stumm. Es gab von Anfang an Begleitmusiken aller Arten und Ansprüche und schon in den ersten Jahren nach der Erfindung der lebenden Bilder hatten Ingenieure an der Tonwiedergabe getüftelt. Als der „Jazz-Singer“ unwiderruflich das Ende des Stummfilms herbei sang, waren die meisten Filmkünstler und –liebhaber noch davon überzeugt, dass die wahre Kinokunst nicht anders als stumm sein könne. Gegen Ende der zwanziger Jahre hatte man vergessen, dass die synchrone Gleichzeitigkeit von Bewegung und Akustik ein Traum der Kinopioniere gewesen war.
Henny Porten, der Stummfilm-Star, arbeitete schon als Jugendliche zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts mit ihrem Vater an der Verbindung von Bild und Ton. In kurzen Filmen spielte sie z.B. Figuren, deren Gesten präzise synchron auf die Tonspur einer Schellackplatte abgestimmt waren, die mechanisch verschaltet mit dem Projektionsapparat gespielt wurde. In einer Archivaufnahme schildert sie dieses so genannte Nadeltonverfahren:

O-Ton 4  Henny Porten  ca. 1.00

Lenssen:
Was blieb von den frühen Nadeltonverfahren, als die Filme nicht mehr nur aus kurzen Tanznummern, Slapsticks und Minidramen bestanden? Rainer Rother:

O-Ton 5 Rainer Rother
In dem Moment, wo das Erzählen etabliert war im Kino, die eigentliche Norm und die Filme dadurch länger wurden, hatte diese Form des tönenden Films keine Chance mehr. Und der Stummfilm hat sich entwickelt. Er hat sich formal weiter entwickelt, er konnte seine Geschichten auch ohne Ton erzählen, nur mit Zwischentiteln und mit der Musik.

Lenssen:
Die Stummfilme waren stumm, weil sie auf die Sprache verzichteten. Doch still war es nie im Kino. Es gab Alleinunterhalter am Piano oder Stehgeiger  in den kleinen Kintoppbetrieben, große Orchester oder sogar Orgeln für die wachsende Zahl von Kinopalästen. Schlagzeuger und Geräuschemacher untermalten besondere Effekte in den Filmen: Pferdegetrappel, Türenknallen, Artilleriesalven. Ein Musikgenre entstand zum zweckmäßigen Gebrauch, die so genannte Illustrationsmusik. Guiseppe Becce, der Vielschreiber unter den deutschen Stummfilmkomponisten, stellte sich eine „schnelle Verfolgungsjagd im Schnee“ in Luis Trenkers Film „Berge in Flammen“ so vor:

O-Ton 6  Musik Guiseppe Becce  ca. 0.30

Lenssen:

Musik und Krach im Kino führten kaum zu prinzipiellen Diskussionen über den Wert der siebten Kunst zur Stummfilmzeit, wohl aber die Abwesenheit von Sprache. Der Kritiker Herbert Ihering fürchtete beispielsweise, dass der Sprechfilm das menschliche Wort, das Seelische und Geistige, zur Mechanik verkommen lasse. Und Béla Balász, ein Filmtheoretiker der ersten Stunde, fand, dass das Mienenspiel eines Gesichtes in der Großaufnahme die Sprache vollkommen ersetze. Es sei unmittelbare Wirklichkeit ohne abstrakte Begriffe.
Die urbanen Kinogänger stellte man sich als ideale Augenmenschen vor – tatsächlich wurden ihre Ohren im Kino wohl strapaziert, nicht zuletzt auch durch die Filmerklärer, die sich vor der Leinwand aufbauten. Ihr Beitrag zum Erlebnis könnte so geklungen haben wie die folgende Archivaufnahme:

O-Ton 7  Filmerklärer ca. 0.30

Lenssen:
Schon im Jahr 1922 waren die Physiker und Ingenieure Josef Engl, Joseph Massolle und Hans Vogt in Berlin soweit, ihr neues Tonverfahren praktisch auszuprobieren. Ihr Tri-Ergon-System beruhte darauf, Schallwellen zu fotografieren und sie als Tonspur parallel zur Bildspur auf die gleiche Filmrolle zu kopieren. Der Ton wurde als eine Art Lichtschrift auf dem Filmstreifen aufgezeichnet. Die Ingenieure hatten ein wenig Entwicklungskapital, sie drehten ein erstes Filmbeispiel – und fielen damit Anfang der zwanziger Jahre in Berlin durch. Hans Vogt, einer der drei, erzählt, was man präsentierte.

O-Ton 8  Hans Vogt, Archivaufnahme mit Ton „Ein Tag auf dem Bauernhof“  CD 2, 2.38 – 3.45

O-Ton 9  Rainer Rother
Kurz und gut: Dieses optische Verfahren der Tonaufzeichnung, eine deutsche Entwicklung, ist aufgekauft worden, bevor die Ufa, die das kannte, es sich dann …Sagen wir, die Ufa hat es sich nicht gesichert, weil sie nicht dran geglaubt haben. Amerikaner haben es sich gesichert.

Lenssen:
Was Rainer Rother hier resümiert, beschreibt das Dilemma des größten deutschen Filmstudios der zwanziger Jahre. Als fünf Jahre nach der Erprobung des neuen Lichttonverfahrens der „Jazz-Singer“ die Tonfilmära einläutet, geschieht das nämlich noch mit einer Version des guten alten Nadeltonverfahrens. Die Ufa wäre der Konkurrenz vielleicht einen Schritt voraus gewesen, wenn sie die Idee der drei Berliner Erfinder ernst genommen hätte. Es kam nicht dazu. Man misstraute dem Tonfilm und wollte kein neues System, man wollte überhaupt keins, bis der „Jazz-Singer“ zum Handeln zwang.
Schlechte Stimmung herrschte in der Ufa, als die hauseigenen Techniker 1922 an der Lichtton-Erfindung Feuer fingen, dann jedoch in Widrigkeiten verstrickt wurden und wenig Zuspruch von oben erhielten. Das machte ein Schlüsselroman anschaulich, den ein hochrangiger Produktionsleiter der Ufa, Guido Bagier, in den Zwanziger Jahren nur leicht verfremdet veröffentlichte. Statt „Ein Tag auf dem Bauernhof“ heißt das Tri-Ergon-Probestück bei Bagier „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“.

Sprecher:

Endlich sind wir mit allen Apparaten, Maschinen und Zubehörteilen in Weißensee gelandet. Die ersten Aufnahmen in dem veralteten, verwahrlosten Atelier waren so schlecht, dass Herr Massolle mit Recht ablehnte, weiterhin dort zu arbeiten. Besonders machte uns der Lärm der vielen Spatzen zu schaffen, die sich unter den Dächern eingenistet hatten. Obwohl wir auf die Jagd gingen und eine Anzahl mit Schrot abschossen, traten immer gerade dann Störungen auf, wenn wir eine diffizile Sache aufnehmen wollten.
Der Ruf: „Kauft Schwefelhölzchen!“, den wir wohl dreißig Mal in verschiedener Tonstärke und Klangfarbe ausprobierten, liegt immer noch nicht richtig in dem akustischen Gesamtbild. Häufig ist auch die Musik zu stark – das Blech habe ich fast ganz fort gestrichen. Auch die Bässe sind zu holzig und zu hart. Man brauchte die vierfache Zeit, um dieses alles sorgfältig herzustellen, denn die Apparate sind gut, ja viel feiner als die Menschen, die sie bedienen.

Lenssen:

Der Autor grollt den Hintermännern, die dem deutschen Tonfilm – vorläufig jedenfalls – den Rest geben. Entsprechend dramatisch sein Roman dazu:

Sprecher:
Ich schreie Seeger zu: „Ton mehr aufdrehen – verstärken!“ Seeger geht mit dem Potentiometer bis zur letzten Grenze- die Statophone geben statt Musik nur noch ein brüllendes Geräusch von sich. Seeger ruft entsetzt: „Die Akkus sacken ab- es muss sich jemand zu schaffen gemacht haben!“ Und ein kräftiger Fluch folgt! Nun wird es entsetzlich: Unser wundervoller Schlusschor geht in dem Zischen und Geknatter der Lautsprecher unter – das Publikum beginnt mitzuspielen – es ertönen Zwischenrufe: „Schluss!“ – und in einem Gemisch von Gelächter und Protestrufen endet die Vorführung.

O-Ton 10  Musik „Der Harem auf Reisen“, Weintraub Syncopators aus Rudolf Nelson „Und Nelson spielt“  ca. 0.30

Lenssen:
Stellen Sie sich einen Pianisten am Flügel vor, auf dessen Deckel ein paar per Filmtrick geschrumpfte Musiker und Revue-Girls eine Parade vollführen und allerlei dadaistischen Klamauk veranstalten, den man in den Zwanzigern für Jazz-typisch hielt. Der surreale Bilderwitz stammt aus einem Kurzfilm von Rudolf Nelson, einem der frühesten deutschen Tonfilme. Aber bis es soweit war, mussten nach der Premiere des „Jazz-Singers“ noch knappe zwei Jahre vergehen. Solange dauerte es, bis der Tonfilm in Deutschland etabliert war. Es setzte ein Kampf mit Patent-Prozessen, Finanzmanövern und Filmexperimenten ein. Man fürchtete die Monopolisierung der Tonfilmtechnik durch die Amerikaner, konnte aber kein starkes deutsches Syndikat auf die Beine stellen. Die Firma Tobis, eigentlich: Tonbild-Syndikat, ging aus den Verhandlungen zwischen den Banken und den Patenthaltern hervor. Bis zu einem Abkommen der Filmkonzerne existierten mindestens zwei Tonfilmsysteme parallel auf dem Markt. Rainer Rother:

O-Ton 11  Rainer Rother
Man musste sich einkaufen. Das ist ganz klar. Und das betraf die Kinoketten oder die einzelnen Kinobetreiber bis hin zum kleinsten Kino, ein Prozess, der über Jahre ging. Man musste investieren, man musste sich für das richtige System entscheiden, jedenfalls solange es kein einheitliches Abkommen gab. Das ist ja erst 1930 im so genannten Pariser Tonfilmfrieden ratifiziert worden. Es war also auch ökonomisch eine richtig krisenhafte Situation. Hinzu kam, dass die Einführung ja nun nur ein Jahr oder knapp ein Jahr vor der Weltwirtschaftskrise kam. Also es war ohnehin eine ökonomisch unglaublich prekäre Situation. Das hat einerseits noch mal das Zögern verstärkt, andererseits bei der Ufa den Mut zum Sprung befördert. Und die Ufa hat ihre Kinos auf die neue Technik ausgerichtet. Das hat ja Konsequenzen für den Projektor, auch für die Größe der Leinwand auch zum Beispiel. Da gibt es natürlich Lautsprecher, die eingebaut werden müssen. Sie hat die Studios umgerüstet, hat innerhalb kürzester Zeit das Tonfilmkreuz aufgebaut, das erste Studio in Europa, das wirklich Tonfilm-tauglich war.

Lenssen:
1929 wurden noch175 Stummfilme und acht Tonfilme in Deutschland gedreht, im folgenden Jahr standen bereits 101 Tonfilme 45 Stummfilmen gegenüber. 1931 fiel die Zahl der Stummfilme auf zwei zurück, ab 1932 gab es nur noch Tonfilme. Das Lichttonverfahren setzte sich allmählich durch – für viele Jahrzehnte. Damals zu Beginn der Tonfilmära zitterten die Schauspieler vor der Mikrofonprobe. Viele Stimmen gefielen nicht mehr. Die mächtige Ufa rüstete ihre Kapazitäten auf, sie baute das Tonkreuz, ein schallgeschütztes Tonfilmstudio in Potsdam-Babelsberg. Rainer Rother:

O-Ton 12 Rainer Rother:
Das Problem des Tonfilms ist ja, man darf keine Geräusche hören außer denen, die man hören muss. Unter anderem gehören zu den Tönen, die man nicht hören muss, die Geräusche der Kamera. Deswegen werden die geblimpt. Sie werden gedämmt. Und dadurch werden sie jedenfalls eine bestimmte Zeit unbeweglich. Und das was den Stummfilm ausgezeichnet hat, die bewegte Kamera, fällt weg. Damit gibt’s die Gefahr, dass die Räume auch enger werden. Wenn man sie nicht mehr durchstreifen kann und nicht mehr öffnen. Aber sehr schnell merken die Regisseure, dass man, um einen Raum zu erzeugen, Ton benutzen kann. Man braucht gar nicht das Bild, sondern das was man von dem Off außerhalb des Bildes hört, setzt für den Zuschauer sofort eine ganz neue Welt zusammen.

Lenssen:
Bis die Kreativen solche neuen Mittel für sich entdeckten, verging Zeit. Die meisten frühen Tonfilme beschränkten sich auf Musik und lippensynchron gesprochene Dialogsätze auf der Tonspur, alles extra aufgenommen und mit Geräuschen gemischt. Hohl und hallig klang der frühe Sound. Ein Beispiel aus Eugen Schüfftans Berliner und Arbeitslosenkomödie „Ins Blaue hinein“:

O-Ton 13   Ins Blaue hinein  „Meine Herren, wollen Se noch’n Stückchen mit? + Musik  0.40

Lenssen:
In Schüfftans lässigem Roadmovie wird der pure Lebensgenuss beim Autofahren gefeiert, obwohl das Protagonisten-Qaurtett pleite ist und auf verrückte Ideen kommt, um Geld zu verdienen. Krachverliebt lässt man viele Hunde bellen – alles Kunden der neu gegründeten Hundewaschanstalt. Anders als in diesem kleinen Film setzen die meisten Regisseure eher auf die Arbeit am Sprechen.

O-Ton 14 Rainer Rother
Tatsächlich ist aber die erste Karte, die gespielt wird, der Dialog. Und die Musik. Das führt dann zu zwei ganz spezifischen Genres, die dann sehr schnell ihre Labels bekommen. Also dialoglastige Filme sind vom Theater inspiriert und die werden irgendwann langweilig, wenn diese Neuheit, dass man die Leute hört, nachlässt. Aber die Musik hält sich vor allem deswegen länger, weil es zwei internationale Genres gibt, die auf die Bedürfnisse der Musik und zugleich auf die Bedürfnisse der Zeit eingehen. Das ist das amerikanische Musical und das ist die deutsche Tonfilmoperette. Beide sind mir einer sehr eleganten Form der Verknüpfung von Musik und Handlung gesegnet, wenn man so sagen darf und beide reflektieren auf ihre Art und Weise die Umstände der Zeit. Es sind beide in der Tendenz Depressionskomödien. Deswegen passen sie gut in diese Zeit der Weltwirtschaftskrise und in die sich mit den Folgen herumschlagende Gesellschaft.

O-Ton 15 Lilian Harvey „Irgendwo auf der Welt gibt’s ein kleines bisschen Glück“ ca. 0.30

Lenssen:
Hatte die Filmindustrie lange gezögert, ihre universellen Vermarktungschancen, die sie mit Stummfilmen gewonnen hatte, zu gefährden, so versuchte sie das Dilemma in der frühen Tonfilmära kreativ zu bewältigen. Man begann in großem Stil, ein bestimmtes Filmprojekt in verschiedenen Sprachen zu realisieren. Im gleichen Set wurden unterschiedliche Versionen gedreht. Auch Alfred Hitchcock drehte Anfang der dreißiger Jahre Filme in einem englischen Studio mit deutschen und englischen Ensembles. Ein Ausschnitt aus „Murder“.

O-Ton 16  Anfang 1. Gerichtsszene mit englischer Schauspielerin und mit Olga Tschechowa, ca. 0.40

Lenssen:
Die Idee solcher Filmversionen ging von der Einheit von Stimme und Körper aus. Eine Schauspielerin wie Olga Tschechowa muss unverwechselbar klingen, kann nicht durch eine synchronisierte fremde Stimme übersetzt werden. Dasselbe gilt für die Schauspielerinnen jeder anderen Sprachversion. Diese Methode, einen Film für andere Sprachzonen verständlich zu machen, wurde ab 1932 nur noch spärlich verwendet und dann aufgegeben, weil sie zu kostspielig war.
Eine andere Dimension des Tonfilms, die Geräusche, avancierte zunächst nur schwer zum eigenständigen künstlerischen Material. Wenn man eine verschlossene Tür zeigt und ein Geräusch hörbar macht, dass die Zuschauer verstehen und mit dem Raum hinter der Tür assoziieren, dann kann man eine Geschichte erzählen, ohne sie direkt im Bild zeigen zu müssen.
Hitchcock begann „Murder“ mit dem Bild einer nächtlichen Turmuhr, dem Blick in eine Kleinstadtstraße und einem Schrei. Josef von Sternberg zeigte Marlene Dietrich, die Lola des Films „Der blaue Engel“, in der Garderobe mit Professor Unrath, doch jedes Mal, wenn die Tür sich öffnet, hört man die Geräusche der Kaschemme draußen. Lola wird sie nicht los. Fritz Lang experimentierte mit dem Zuschauer. Rainer Rother:

O-Ton 17   Rainer Rother

Wenn man an „M“ denkt, das ist ja der beste deutsche Film, wenn man mal an die offiziell zusammengestellte Liste der besten Filme denkt, einer der ersten Tonfilme überhaupt in Deutschland, der erste von Fritz Lang. Und ein Krimi, eine Thrillergeschichte. Und tatsächlich ist das eine Genre, das sehr schnell entdeckt, dass man mit Tönen Spannung, Angst und Unheimlichkeit erzeugen kann. Dass die Verhöre eine dramatische Funktion haben, dass es auch darum geht, wann wird welche Information vom Kommissar, vom Detektiv entdeckt, welcher Satz fällt, der auf diese Spur führt. Das ist ja alles für uns, die wir heute einen Tatort sehen, ganz selbstverständlich. Das in das Genre einzubeziehen, ist eine Leistung von Fritz Lang.

O-Ton 18  Szene aus „M“, Mutter ruft nach der Tochter  0.40


Lenssen:

Die mächtige Filmindustrie der zwanziger Jahre tat sich schwer, mit der amerikanischen Konkurrenz und ihrem Vorsprung in Sachen Ton seit dem „Jazz-Singer“ zu wetteifern. Das Publikum war fasziniert, die Schauspieler und Regisseure glaubten dagegen an den Verlust geheimnisvoller Qualitäten, die der Stummfilm den anderen Künsten voraus habe. Aber schneller und einfallsreicher als gedacht hielt der Tonfilm Einzug.

Rother Interview

Claudia:
Rother: Es war ein unerwarteter Erfolg. In den deutschen Studios
Die Ufa hatte sich mit den Problemen des tonfilms ja schon beschäftigt, hatte Probeaufnahmen gemacht, hatten diese neue Technik auch in einerziemlich überzeugenden form kennen gelernt und sie hatten sich dann doch davon verabschiedet. Und zwar mit dem Gedanken ,dass das die Internationalität und damit die Exportfährig keiten der eigenen Produkte natürlich schädige. Es ist viel leichter bei einem Stummfilm Zwischentitel zu übersezten  als mit den wahren Tönen und der Sprache der Darsteller umzugehen. Deswegen war man eigentlich skeptisch. Und als dann in Deutschland Jazz Singer auch ein sehr sehr großer Erfolg war, war klar, dass man reagieren musste. Es war tatsächlich das Gebot, nun zu handeln, entstanden.

Man musste sich einkaufen. Das ist ganz klar. Ma musste natürölich die neue Technik – und das betraf die Kinoketten oder die einzelnen Kinobetreiber bis hin zum kleinsten Kino, ein Prozess, der über Jahre ging. Mam musste investieren, man musste sich für das richtige System entscheiden, jedenfalls solange es kein einheitliches Abkommen gab. Das ist ja erst 1930 im so genannten Pariser Tonfilmfrieden dann ratifiziert worden. Es war also auch ökonomisch eine richtig krisenhafte situation. Hinzu kam, dass die einführung ja nun nur ein Jahr oder knapp ein Jahr or der Weltwirtschaftskrise kam. Also es war ohne hin eine ökonomisch unglaublich prekäre Situation. Das hat eineerseits noch mal das Zögern verstärkt, andererseits bei der Ufa den Mut zum Sprung befördert. Und die Ufa hat von Anfang an ihre Kinos präferiert. Sie hat ihre Kinos auf die neue Technik ausgerichtet. Die konnten nun Tonfilm abspielen. Das hat ja Konsequenzen für den Projektor, auch für die Größe der Leinwand auch zum Beispiel. Da gibt es natürlich Lautsprecher, die eingebaut werden müssen. Sie hat die Studios umgerüstet, hat innerhalb kürzester Zeit das Tonfilmkreuz aufgebaut, das erste Studio in Europa, das wirklich tonfilm-tauglich war. Und hat radikal auf die Karte Tonfilm gesetzt, das ist das Produktionsjahr 29/30, in dem sich das entscheidet. Die ersten Tonfilme der Ufa sind 1929 entstanden, ab 1930/31, also der nächstfolgenden Staffel ist die Ufa praktisch hundert Prozent Tonfilmproduzent.

Es gab ja fast von Beginn an immer schon Filme, zu denen auch Ton gespielt wurde, der synchron war, denn das war ja der Witz. Es ging um die Synchronität dessen ,was man sieht und dessen, was man hört. Also der Nadelton, die alten Schellackplatten, die dann synchron aufgenommen wurden zu kurzen Gesangsnummer, die Tonbilder, die Messter schon kurz nach 1900 in die Kinos gebracht hat, war ja der erste Schritt zu einer Art Tonfilm. Das hat auch gut funktioniert mit verschiedenen Verfahren, solange es immer um kurze Filme ging. Diese kurzen Filme waren ja in Nummern aufgebaut. Das gabs dann eine Slapsticknummer ,dann gab’s ne Tanznummer ,dann gabs irgendwas anderes, ne Varieté-nummer. Und dann gabs eben auch einen Gesangsvortrag. Man hörte dann den Tenor oder die Sopranistin. In dem Moment, wo das Eerzählen etabliert war im Kino, die eigentliche Norm und die Filme dadurch länger wurden, hatte diese Form des tönenden Films keine chance mehr. Und der Stummfilm hat sich entwickelt. Er hat sich formal weiter entwickelt, er konnte seine Geschichten auch ohne Ton erzählen , nur mit Zwischentiteln und mit der Musik. Und nun gab es zwei formen, in enen der Tonfilm entwickelt wurde und möglich wurde. 6.25 Das eine war eine Weiterentwicklung des Nadeltonverfahrens, das waren dann plötzlich Platten, auf denen der Ton wie auf einer Grammophonplatte gespeichert war und synchron abgespielt wurde. Das ist das Verfahren, das mit Jazz Singer sozusagen in Amerika den Durchbruch brachte. Und dann haben deutsche Erfinder, Vogt, Massolle und Engel ein Verfahren entwickelt, das hieß Triergon 6.45 entwickelt und da wurden die akustischen Impulse in eine Leuchtschrift, wenn man so sagen will, in eine Leuchtschrift, eine Lichtschrift umgesetzt und parallel zum Bild gespeichert. Allerdings leicht versetzt, denn der Witz des bildes ist ja, dass aus einem feststehenden Kader in der Abfolge vierundzwanzig Bilder pro Sekunde der Eindruck einer kontinuierlichen Bewegung wird. Das lässt das Ohr nicht mit sich machen. Das lässt sich nicht täuschen. Da muss es kontinuierlich tatsächlich auch sein, die ganze Zeit. Deshalb wird der Ton abgenommen, bevor das Bild steht. Aber kur und gut: Dieses optische Verfahren der Tonaufzeichnung, eine deutsche Entwicklung, ist aufgekauft worden, bevor die Ufa, die das kannte, es sich dann …Sagen wir, die Ufa hat es sich nicht gesichert, weil sie nicht dran geglaubt haben. Amerikaner haben es sich gesichert. Und das fürht zu dem gesamten Dilemma. Man muss das ejtzt kaufen, man muss sich auf irgendeine Seite stellen. Und so kommt es dann eigentlich zu den zwei ganz kurze Zeit – wenn man die Filmhistorie sich anschaut – konkurrierenden Verfahren, bei denen sich aber dann dauerhaft der Lichtton durchsetzt, bis er später vom Magnetton und digitalen Verfahren ersetzt wird. 8.00

Das ist unterschiedlich. Also die Welt der Geräusche hat vor allem Dokumentar- und Experimentalfilmer fasziniert. „Melodie der Welt“ Da haben dann auch Leute wie René Clair und Jean Renoir  plötzlich entdeckt, dass wenn man eine WC Spülung hören lässt, und zwar in einem Raum, den man nicht sieht, das das einen sehr aufschlussreichen Effekt gibt, weil die Zuschauer das Gerräusch kennen und wissen, was nebenan passiert. Also mit solchen Dingen arbeitet der frühe Tonfilm auf einer experimentellen Form und auch auf einer ironischen Form. Das Renoir-Beispiel ist ja so eines schon, sehr früh. Tatsächlich ist aber die erste Karte, die gespielt wird, der Dialog. Und die Musik. Das führt dann zu zwei ganz spezifischen Genres, die dann auch sehr schnell ihre Labels bekommen. Also dialoglastige Filme sind vom Theater inspiriert und die werden irgendwann langweilig, wenn diese Neuheit, dass man die Leute hört, dann nachlässt. Aber die Musik hält sich länger und edie Musik hält sicvh vor allem deswegen länger, weil es zwei internationale Genres gibt, die auf die Bedürfnisse der Musik und zugleich auf die Bedürfnisse der zeit eingehen. Das ist das amerikanische Musical und das ist die deutsche Tonfilmoperette. Beide sind mir einer sehr eleganten Form der Verknüpfung von Musik und Handlung gesegnet, wenn man so sagen darf und beide reflektieren auf ihre Art und Weise die Umstände der Zeit. Es sind beide in der Tendenz Depressionskomödien. 10.19. Deswegen passen sie gut in diese Zeit derWeltwirtschaftskrise und in die sich dem Folgen herumschlagende Gesellschaft.

11.18 Wenn man an „M“ denkt, da gibt’s ja, das ist ja der beste deutsche Film, wenn man mal an die offiziell zusammengestellte Liste der besten Filme denkt, einer der esten Tonfilme überhaupt in Deutschland, der erste von Fritz Lang. Und ein Krimi, eine Thrillergeschichte. Und tatsächlich ist das eine Genre, das sehr schnell entdeckt, dass man mit Tönen Spannung erzeugen kann, Angst und Unheimlichkeit erzeugen kann. Dass die Verhöre eine dramatische Funktion haben, dass es auch darum geht, wann wird welche Information vom Kommissar, vom Detektiv entdeckt. Welcher Satz fällt, der auf diese Spur führt. Das ist ja alles für uns, die wir heute einen Tatort sehen, ganz selbstverständlich, dass wir nach einer gewissen Zeit überlegen, aber der hat doch da das gesagt und jetzthaben wir aber eine andere Information. Das in das Genre einzubeziehen, ist wirklich eine Leistung von Fritz Lang abgesehen davon dass es da auch ganz auffallend ausgestellte Verwendungen des Tones gibt, also den Ruf nach der Tochter und die Kamera zeigt die Suche nach der Tochter und wir wissen, sie ist umgebracht worden. 12.41

Erstmal ist es eine Kompensation, wenn man so will. Das Problem des Tonfilms ist ja, man darf keine Geräusche hören außer denen, die man hören muss. Unter anderem gehören zu den Tönen, die man nicht hören muss, die Geräusche der Kamera. Deswegen werden die geblimpt. Sie werden gedämmt. Und dadurch werden sie jedenfalls eine bestimmte Zeit unbeweglich. Und das was den Stummfilm ausgezeichnet hat, die bewegte Kamera, fällt weg. Damit gibt’s die Gefahr, dass die Räume auch enger werden. Wenn man sie nicht mehr durchstreifen kann und nichtmehr öffnen. Aber sehr schnell merken die Regisseure, dass man, um einen Raum zu erzeugen, Ton benutzen kann. Man braucht gar nicht das Bild, sondern das was man von dem Off ausßerhalb des Bildes hört, seztt für den Zuschauer sofort eine ganz neue Welt zusammen. Die kann man dramaturgisch nutzen. Das Beispiel mit der Garderobe ist sehr schön, man hört eben das was draußen ist. Man hört die Rufe, man kann viele Beispiele auch aus „Abschied“ nennen, wo es um eine Pension geht, wo

15.09 Das war eigentlich eine sehr schöne Idee, weil die Zuschauer, die zum ersten Mal die Stimmen hören, in einer für uns in Deutschland und in anderen europäischen Ländern auch nicht mehr so selbstverständlichen Weise davon ausgehen, dass Stimme und Körper zusammen gehören. Also wenn ich Lilian Harvey sehe, dann muss sie auch wie Lilian Harvey klingen. Sie darf keinesfalls anders singen, weil das ja eine Fälschung wäre. Die Authentizität des Tones ist noch ganz präsent. Deswegen gab es nur zwei Möglichkeiten am Anfang, die Zuschauer mit den Tonfilmen zu versöhnen. Das eine ist die noch heute gebräuschliche Form der Untertitelung, das ist mühsam, das findet nicht immer ein großes Publikum. Die andere Möglichkeit, die vor allem in Deutschland benutzt wurde, sind die sogenannten Versionen. Auch Hitchcock hat Versionen gemacht. Das heißt man hat einen Film, einen Set, eine Geschichte, aber man erzählt sie mit englischen Darstellern oder mit deutshen Darstellern oder mit französischen. Oder man erzählt sie in allen drei Fällen mit Lilian Harvey, weil die in allen drei Sprachen kann und wechselt bloß ihre Partner aus. Das geht auch, ist auch sehr erfolgreich gewesen, allerdings ein bisschen kostspielig. Hat großen Vorteil gehabt, weil man sich doch auf die gelegentlichen Rezeptionsgewohnheiten des Publikums doch einstellen kann. Indem man eine Baskenmütze dem französischen Darsteller tragen lässt, ist er Franzose, .. Das ist wegen … Der Originalton ist eben das Ideal des ganz frühen Tonfilms.

O-Töne für Kulturtermin „Angejazzt und krachverliebt“

1. Ufa-Gong,
Aus „Zwanzig Jahre Tonfilm“, NDR 1949, F827966100

2. Al Jolson, Ausschnitt aus „The Jazz Singer“,
DRA Wiesbaden B008120617

3. Al Jolson, Ausschnitt aus „The Jazz Singer“
Aus „Zwanzig Jahre Tonfilm“, NDR 1949, F827966200

4. Henny Porten, Archivaufnahme
Aus „Zwanzig Jahre Tonfilm“, NDR 1949, F827966100

5. Musik von Giuseppe Becce, „Schnelle Verfolgungsjagd im Schnee“
Aus „Zwanzig Jahre Tonfilm“, NDR 1949, F827966200

6. Filmerklärer, Archivaufnahme
Aus „Zwanzig Jahre Tonfilm“, NDR 1949, F827966100

7. Hans Vogt, Archivaufnahme plus Filmausschnitt „Ein Tag auf dem Bauernhof“
Aus „50 Jahre Tonfilm“, BR 1979, 80200440

8. 2 Zitate aus „Das tönende Licht“ von Guido Bagier 1943), entnommen dem Band
Das Ufa-Buch“, Hsg. Hans Michael Bock, Michael Töteberg, Frankfurt am Main 1992
S. 245, 13 Zeilen,  S. 247 14 Zeilen + 16 Zeilen

9. Weintraub Syncopators, Soundtrack aus Rudolf Nelsons Kurzfilm „Und Nelson spielt“, von CD: Weintraub Syncopators, Ich kauf’ mir ’ne Rakete, Track 4, Edition Berliner Musenkinder, 1999, Bestellnr. 01493

10. Ausschnitt aus „Ins Blaue hinein“, Dialog und Musik,

11. Lilian Harvey, „Irgendwo in der Welt gibt’s ein kleines bisschen Glück“,
Aus „Zwanzig Jahre Tonfilm“, NDR 1949, F827966200

12. Alfred Hitchcock, aus: „Murder“ und „Mary“ (deutsche Fassung von „Murder“),
Arthaus

13. Fritz Lang, aus: „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“, Universum Film DVD