Séraphine
Erschienen in Epd-Film 12/2009
© Claudia Lenssen

„Séraphine“ führt in die Zeit zurück, in der die Klassengesellschaft im malerischen Gemäuer der französischen Kleinstadt Senlis ihr unumschränktes Regiment führte. Allenfalls als Köchin, Putzfrau und Wäscherin fand eine allein stehende Frau und Tochter einer ledigen Mutter vor dem ersten Weltkrieg ein ärmliches Auskommen. Kunst traute man solch einer Außenseiterin nicht zu. Kunst, zumal in Gestalt moderner Formensprachen, war die Sache mondäner Pariser Gäste, unbegreiflich.
Mit sieben „Césars“ als bester französischer Film des letzten Jahres ausgezeichnet, gehört Martin Provosts Portrait einer unerkannten Künstlerin zu den Hommagen an kreative Frauen, die in Frankreich fast ein Frauenfilm-Genre darstellen. Wie die Biographien von Edith Piaf, Françoise Sagan oder Coco Chanel erzählt „Séraphine“ von weiblicher Grenzüberschreitung und von dem hohen Preis, den der Kampf ums eigene Talent den Frauen im letzten Jahrhundert abverlangte.
„Séraphine“ erzählt die Geschichte der Malerin Séraphine Louis, die ihre kleinen Fluchten in die Natur – heraus aus ihrem beschränkten Kosmos – in eine mystische Inspiration umzuwandeln verstand und in expressiven Gemälden von vegetativen Blüten- und Früchteornamenten zum Ausdruck brachte. Derart eng scheint die Welt der Séraphine Louis (Yolande Moreau) gewesen zu sein, dass ihr posthum erreichter Ruhm in der Kunstgeschichte mit dem Namen des Ortes verbunden blieb, aus dem sie nie ausbrechen konnte. Martin Provost hätte den Kosmos der Séraphine de Senlis als bourgeoises Tableau ausmalen können, doch sein Portrait der talentierten verkannten Außenseiterin bezieht seine besondere Intensität aus der Konzentration auf seine Hauptfigur und deren exzentrische Einsamkeit inmitten der Frauengesellschaft ihrer Kleinstadt. Typische Patriarchen, Pfarrer und männliche Kleinstadtautoritäten gibt es in dieser vom Schock der Schlachten des ersten Weltkriegs erschütterten Gesellschaft keine. Selbst Séraphines mystisch-musikalische Verbundenheit mit ihrer „Schutzgöttin“ Jungfrau Maria fußt auf den handfesten Erfahrungen in der Frauenwelt eines klösterlichen Waisenhauses, deren Schwestern sie gelegentlich immer noch auf ein Stück Kuchen besuchen kommen.
Der einzige Mann, der Anerkennung, Förderung, Aufbruch aus dieser Dienstmädchen-Existenz und Fraueneinsamkeit verspricht, ist selbst ein Außenseiter. Wilhelm Uhde (Ulrich Tukur), ein deutscher Kunstpublizist, Mäzen und Galerist, der seine Homosexualität mit äußerster Diskretion lebt, entdeckt das Talent der Malerin, als er 1912 mit seiner Schwester (Anne Bennent) den Sommer in Senslisverbringt und auf Geheiß der Vermieterin von Séraphine bekocht und versorgt wird.
Der Film schildert die gegenseitige Entdeckung des Anderen mit unaufdringlicher Poesie. Das Spiel der Blicke, der Klang der Stimmen und Geräusche und die Berührung mit Alltagsgegenständen, die vom jeweils Abwesenden erzählen, sind in Provosts Inzenierung zu einem anrührenden Gewebe sinnlicher Eindrücklichkeit vereint. Einmal entdeckt der Flaneur Uhde die bäuerliche Séraphine nackt und singend im fließenden Bach stehen, ein anderes Mal kommt eine vorsichtige Annäherung im Gespräch über die Bilder in Gang, die der Intellektuelle für seine schriftstellerische Arbeit mitgebracht hat. Yolande Moreau verkörpert die robuste, verschlossen wirkende Séraphine mit feinen Nuancen, die Kraft und Zartheit miteinander verschmelzen. Uhdes Eleganz und Weltläufigkeit, d. h. die Moderne, die er und seine Schwester repräsentieren, finden immer wieder zu schönen Szenen, wenn die Stadtmenschen mit ihrem rumpelnden Automobil unterwegs sind und die behäbige Geschwindigkeit mit brausendem Fahrtwind genießen.
In vielen sorgsam rhythmisierten Szenen, die Séraphine zu Fuß unterwegs zeigen, folgt man den Abläufen ihrer harten Arbeit als Botengängerin, Wäscherin und Dienstmagd. Mit derselben Anschaulichkeit teilen sich auch ihre einsam rauschhaften Naturerlebnisse mit, so wenn sie beispielsweise auf einen frei stehenden Baum klettert und die Weite genießt, wenn sie Schlamm, Blut von Schlachtvieh oder Früchte sammelt, um daraus zu Hause im Mörser ihre geheimen Farbrezepturen zu mischen. Séraphines Begegnung mit Uhde hat nichts von den Spielregeln einer Künstler/Galeristen-Freundschaft, sie wird vielmehr zu einem schicksalhaften Missverständnis, einer uneingelösten (Liebes-)Erwartung, die Séraphine um den Verstand bringt. Uhde verspricht der Malerin erst ein Jahrzehnt nach der ersten Begegnung eine eigene Ausstellung, muss diese jedoch während der Weltwirtschaftskrise aufschieben – ein Verrat, den die in Senslis zurückgebliebene nicht erträgt. Am Ende ein subtiles Erinnerungsbild: Séraphine entdeckt in der Irrenanstalt einen Stuhl, der dem gleicht, auf den Uhde sie bei seiner ersten Rede über ihr Talents platziert hatte. Sie trägt ihn fort zu einem jener frei stehenden Bäume, von denen einst ihre Inspiration ausging.

Vier punkte:

Martin Provosts Biographie der Malerin und Dienstmagd Séraphine de Senslis, einer Größe der „primitiven Moderne“, erzählt mit exzellenten Schauspielern, einer bravourösen Bildsprache und der faszinierenden Musik von Michael Galasso von einer zu Lebzeiten verkannten Künstlerin.