Interview mit Wim Wenders zu „Pina“
Berlin 18.1.2011
Kurzfassung erschienen in Tip Berlin,

Claudia Lenssen:
Herr Wenders, „Pina“ ist nach dem Tod von Pina Bausch in der Vorbereitungsphase des Projekts zu einer Art Requiem geworden. Was hatten Sie ursprünglich geplant? Einen biographischen Film?

Wim Wenders:
Nein, „biografisch“ wäre der Film, den ich mit Pina zusammen machen wollte, auch nicht geworden. Es wäre auch da vor allem um ihre Arbeit gegangen. Aber ich hätte sie bei der Arbeit beobachten können und wir wären mit ihr und dem Ensemble nach Südamerika und Asien gereist. All das ging nun nicht mehr. Aber die Arbeit selbst war noch da, monumental einmalig und bahnbrechend wie ehr und je. Und ihre Tänzer, ihr Orchester, wenn Sie so wollen, Pinas Sprachrohr, ihr Instrumentatrium. Sie sagen „Requiem“, aber wir hatten keine Bezeichnung für das, was wir gemacht haben. Erinnerungsarbeit, Trauerarbeit… dabei ist aber überhaupt keine traurige Arbeit zustande gekommen, im Gegenteil! Wir hatten ja ein gutes Vorbild. Pina hat gerne gelacht, ihre leichtesten Stücke hat sie in ihren schwersten Zeiten gemacht.

Claudia Lenssen:
Seit wann interessierten Sie sich für Pina Bauschs Arbeit?

Wim Wenders:
Ich lernte sie erst Mitte der achtziger Jahre kennen, weil ich in Amerika lebte und den Beginn ihrer großen Zeit in den späten Siebzigern gar nicht wahrnahm. 1985 bekam ich gleich eine Riesendosis, als ich eine Retrospektive in Venedig sah und wir uns kennen lernten. Zuerst wollte ich nur einen Abend sehen, „Café Müller“ und „Le Sacre du printemps“, dann aber alles. Ich sagte sofort: „Pina, wir müssen mal was zusammen machen.“ Wir haben uns gut verstanden, sofort, auf Anhieb. Wir waren beide um vierzig, Pina ein paar Jahre älter, und kamen aus derselben Gegend. In Wuppertal und dem Bergischen Land war ich als Kind jedes Wochenende gewesen. 1973, als sie in Wuppertal am Theater anfing, hab ich „Alice in den Städten“ im Ruhrgebiet gedreht, das war ein wichtiger Meilenstein in meinem Leben. Was Pina erzählt, ging mich richtig etwas an und nicht zuletzt hatten wir in der Musik einen gemeinsamen Boden.

Claudia Lenssen:
Pina Bausch arbeitete mit anderer Musik als Sie.

Wim Wenders:
Alle ihre Stücke enthalten auch eine minutiöse musikalische Arbeit. Ihre Musikwahl ist breiter gefasst, aber bald nach Strawinskys „Le Sacre du printemps“  z. B. kamen auch südamerikanische Musiken dazu, Schlager, Blues und Rock’n Roll. Es war zuerst nur ein Nebengedanke, aber eben auch musikalisch hatten wir uns durchaus etwas zu erzählen. Aber vor allem die Sensibilität, mit der sie an ihre Geschichten heranging und sie erfand, hat mich fasziniert.

Claudia Lenssen:
Ihre Filme sind oft Roadmovies, die Stücke von Pina Bausch waren für begrenzte Bühnenräume inszeniert.

Wim Wenders:
Pinas Bühnenraum ist manchmal unendlich, wie das Weltall. „Sacre du printemps“ ist ein abstrakter Raum, die Erde selbst. Später kamen immer mehr Landschaften vor, Berge und Täler, Lavaflüsse, Felsen, Flüsse und Meere, die Elemente waren ihr sehr wichtig. Über die Videoprojektionen, die sie in den achtziger Jahren in ihre Stücke gebracht hat, kam eine große Weite hinein. Aber wichtiger war ihr, wovon die Stücke handeln, vonunserer  Suche nach Liebe, nach Identität, wo man hingehört, wer man ist, dieses urdeutsche „Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen.“ Pinas Stücke handeln ganz ähnlich von Frauen wie meine von Männern gehandelt haben.

Claudia Lenssen:
In Ihrem Film überträgt sich eine bestimmte Wärme und Freundlichkeit, vielleicht Zärtlichkeit, mit dem Erbe der deutschen Romantik umzugehen. Fand Pina Bausch etwas Heilendes in den „Rissen der Welt“?

Wim Wenders:
Das ist Pinas größte Gabe gewesen. Sie hat ihr ganzes Werk hindurch den Finger auf viele Wunden gelegt, aber nie so, dass ich das Gefühl hatte, sie tut mir weh. Sie hatte etwas Tröstendes, und in allen ihren Stücken, die manchmal rabenschwarz waren, gab es auch immer Humor und eine große Zärtlichkeit, die einen weiter getragen hat. Es gibt witzige Stücke, auch sehr wehmütige, ohne dass man sich weggeworfen fühlte.

Claudia Lenssen:
Haben Sie ihre Arbeit über die Jahre immer begleitet?

Wim Wenders:
Nachdem ich Pinas Arbeit einmal kannte, war ich geradezu süchtig, habe mich immer aufs Neue darin hinein fallen lassen. Man war da einfach wunderbar aufgehoben. Sie geht sehr liebevoll mit ihren Tänzern um, mit ihren Geschichten und der großen permanenten Recherche, in die sie die Zuschauer auf betörende Weise einbezieht.

Claudia Lenssen:
Pina Bausch bezog die Beiträge ihrer Tänzer in die Choreographien ein?

Wim Wenders:
Ja, sie betrieb eine ständige Forschungsarbeit auf einem Gebiet, auf dem man auch als Filmemacher oder Schriftsteller arbeitet. Die conditio humana ist ja ein weites Feld, ich kenne niemand im Theater oder Film, der so radikal wie sie untersucht hat, was Menschen allein durch Bewegung und Gesten von sich erzählen. Wie sie stehen, wie sie sich halten, was erzählen sie da mit ihren Körpern? Sie hat das wie eine Anthologie aufgedeckt und jedes mal gab es neue Kapitel und unerforschte Gelände, die man noch nicht gesehen hatte. Als Filmemacher untersucht man dieselben Phänomene, denn die Körpersprache ist für jeden Schauspieler wichtig. Die Präsenz, die sagenumwobene, erforscht man auch im Film. Indem manche Schauspieler gerade nichts machen, sind sie da. Dieser körperlichen Präsenz  hat sich Pina auf ganz andere Weise gewidmet. Was zwischen Männern und Frauen passiert, ohne Worte meist, ohne Psychologie, ohne Dramaturgie, nur durch die Bewegungen, durch Anstoßen und Abstoßen, ganz phänomenologisch. Wie erzählt man die Geschichten der Sehnsucht und der Liebe ohne „Handlung“, nur mit der universellsten Sprache, der Körpersprache? Auch wenn man nur dasitzt und guckt und nicht mittanzt, ist man doch dabei und tanzt mit, das ist das Verrückte daran. Ich habe über die Jahre viele Leute mitgenommen und gesagt: „Das müsst Ihr sehen!“ Dann kam oft die Entgegnung: „Mit Tanz hab ich nichts am Hut. Muss das sein?“ Wenn sie dann doch mitkamen, saßen sie meist da und waren erschüttert. Jeder Zuschauer hat gespürt: Das handelt auch von mir!

Claudia Lenssen:
Warum wollten Sie den Bühnenraum in Ihrem Film mit dem 3D-Format auflösen?

Wim Wenders:
Es findet in Pinas Stücken etwas Besonderes statt, sie schafft es, über die Bewegungen und Gesten in unsere Seelen einzudringen. Was die Tänzer machen, ist eine ganz eigene Form von Theater. Je mehr ich drüber nachdachte, wurde mir klar, dass jeder Schritt den Raum als sein Element besitzt und zugleich transzendiert. Dieser manchmal gewaltige Bühnenraum war ein Problem bei der Idee, einen Film mit Pina zu drehen. Sie wollte, dass ihre Stücke gefilmt werden, weil es ihre Arbeit nicht mehr gab, wenn sie sie nicht weiter aufführte. 40 Stücke hat sie so am Leben gehalten – halten müssen. Aber ich sagte ihr: „Pina, ich weiß nicht, wie man’s machen soll.“ Der spezielle Zwischenraum, in den sie hineingegangen ist, war nicht zu erfassen, er schien mir dem Kino nicht zugänglich. Man konnte ihn simulieren, wie das Kino ja seit hundertzwanzig Jahren mit Einstellungswechseln und diversen Objektiven den Raum scheinbar beherrscht und Illusionen erzeugt. Wir sind daran gewöhnt, so dass es für uns fraglos ist, dass das Kino den Raum zeigt. Jeder Western, jedes Roadmovie geht in den Raum, aber das ist ein Trick, eine Vortäuschung, eine Dimension, die es nicht gibt. Das Kino hat wunderbare Wege erfunden, das Manko wettzumachen. Erst rudimentär waren die ersten Einstellungen noch reiner Guckkasten, aber dann haben wir uns daran gewöhnt, im normalen Kino per definitionem nicht mehr wahrzunehmen, dass der Raum nicht da ist. Aber genau in den Raum musste man hinein, um an das Herz von Pinas Arbeit heranzukommen, in diesen Zwischenraum zwischen Männern und Frauen. Wenn ich mir hätte vorstellen können, wie ich der Lebensfreude, Leichtigkeit, Komlexität ihrer Arbeit mit meinem Handwerk, dem Film, hätte gerecht werden können, hätte ich das sofort getan.

Claudia Lenssen:
Im klassischen Kino ist Ihnen das unmöglich erschienen?

Wim Wenders:
Auf der leinwand oder dem Bildschirm wäre immer ein Manko übrig geblieben. Das Element des Tanzes ist der Raum, den sich jeder Tänzer mit jedem Schritt erobert. Und Pinas Tanztheater handelte vor allem von dem Raum zwischen den Menschen. Diese Tür hat sich mit 3D plötzlich aufgetan. Ein atemberaubendes neues Gelände, das von all den Action- und Animationsfilmen noch nicht einmal annähernd betreten worden ist. Da ist der Raum nur Attraktion, Kirmes, Geisterbahn. Wir wollten mehr: ein natürliches, unangestrengtes, elegantes Raumgefühl, das die Technik, mit der es hergestellt wird, vergessen lässt.

Claudia Lenssen:
Durch die 3D-Bilder in „Pina“ entsteht eine Art optische Aura zwischen Körperumriss und Raum. Haben Sie die Überlegungen der bildenden Künstler in der Malerei noch einmal nachvollzogen?

Wim Wenders:
Richtig, es geht um die Körperlichkeit, die das A und O von Pinas Arbeit in jeder Szene ist. Das ist durch 3D im Kino wirklich spürbar. An die Körpersprache in Pinas Stücken und das Gefühl kam ich mit dem herkömmlichen Film nicht heran. Es gibt in „Pina“ ja auch Szenen, wo die Tänzer einfach nur da sitzen, während man ihre Gedanken und Erinnerungen an Pina hört. Und allein schon dabei sind sie auf eine andere Art anwesend, als man es je vorher in einem flachen Bild gesehen hat. Man spürt das Volumen des Körpers, wie er mit jeder Geste den Raum zerschneidet und umgekehrt der Raum das Element des Körpers ist. Wenn man die Körpersprache so radikal dechiffrieren will, wie Pina dies getan hat, muss man in ihr Element, den Raum, eintauchen können. hinein. Da lag der Grund, warum wir den Film in 3D machen wollten – oder mussten.
Nach zwanzig Jahren Überlegung sagte ich Pina, ich glaube, ich weiß jetzt, wie es geht. Sie hat das Ergebnis leider nie sehen können. Sie wollte sich keine Testaufnahmen ansehen oder 3D-Filme anschauen. Sie sage einfach: „Du kommst nach Wuppertal und wir drehen mit meinen Tänzern. Nur dann weiß ich, wie gut 3D ist, nur dann weiß ich, ob das geht.“ Also bereitete ich Testaufnahmen für den Juli 2009 vor. Die eigentlichen Dreharbeiten sollten im Herbst stattfinden. Eine Woche vor den Probeaufnahmen hat Pina sich für immer verabschiedet. Einen 3D-Film hat sie nie gesehen.

Claudia Lenssen:
Der Film zeigt sehr wenig Biographisches. Pina Bausch erscheint in den wenigen Aufnahmen ihrer Person fast wie ein Geist. Was war sie für ein Mensch? Man sieht sie hinter ihrem Regietisch sitzen und schauen. Hat sie ausschließlich für ihre Arbeit gelebt?

Wim Wenders:
Die Unermüdlichkeit, die Beharrlichkeit der Arbeit, das war Pina in Person. Tag um Tag, Jahr um Jahr. Ich habe in meinem Leben viele hart rackernde Leute gesehen und bin selbst ein bekennender Workaholic, aber wie Pina gearbeitet hat, übersteigt alles, was ich kenne, achtzehn Stunden am Tag war die Arbeit das Zentrum. Das schloss auch eine enge Beziehung zu den Tänzern und ihrer Stadt Wuppertal ein, obwohl das Tanztheater das halbe Jahr unterwegs war. Jeden Tag Proben und Kritik, morgens die Kritik zum vorhergehenden Abend – das war der Rhythmus. Es war eine Forschungsarbeit, die strikte Reduzierung auf eine komplexe große Sache. Pina spezialisierte sich darauf und bildete ihr Sensorium extrem dafür aus. Jeder kennt das Gefühl, dass man Menschen erkennt, wenn man sie in Bewegung sieht. Ich selbst habe gern behauptet, man müsse nur jemanden beim Tanzen zusehen, um zu wissen, wer derjenige ist. Ich habe oft Leute dabei beobachtet und weiß von mir, dass ich, wenn ich tanze – ich tanze gern free-form – unmittelbar über mich erzähle. Aber meine Herangehensweise ist amateurhaft, Pina dagegen hat ihr Sensorium dafür geschärft. wie kein anderer auf diesem Planeten. Das ging nur mit wahnsinniger Beharrlichkeit, nur indem man es zum Exzess treibt.

Claudia Lenssen:
Hat Pina Bausch ihre Arbeit“ notiert, so dass Sie nach ihrem Tod mit den Tänzern daran anknüpfen konnten? Wie war ihr Werk übertragbar in die Szenen im Film, die außerhalb des Bühnenraums zu sehen sind?

Wim Wenders:
Ausschließlich durch die Erfahrung ihrer Tänzer. Es ist wie bei den Aboriginals, die nichts aufschreiben. Mythen werden da in einer rein verbalen Kultur weitergegeben, jeder ist dafür verantwortlich. Ganz ähnlich ging es mit Pinas Theater. Es war nicht festzuhalten, nur indem man es macht und sieht. Als Außenstehender erlebte man am nächsten Tag bei der Probe, mit welcher Beharrlichkeit eine Kleinigkeit gearbeitet wurde, von der man gedacht hatte, die war doch gut, die hat mir gefallen. Pina hat oft den Kopf geschüttelt und eine halbe Stunde eine einzelne Geste wiederholen lassen, bis die Nuance, die sie wollte, da war. Lange Zeit konnte ich das nicht verstehen. Aber allmählich, wenn man in diese Sprache besser hineinkommt, sieht man genauer.
Was ich erzählen wollte: Es ist keine verbale sondern eine visuelle Tradition, eine die nicht aufgeschrieben werden und von der Kamera nur bedingt festgehalten werden kann. Jetzt ist das ein großes Thema in der Tanztruppe: Was ist richtig? Dass es so aussieht, wie es Pina wollte, oder so, wie es im ersten Moment von dem Tänzer gefühlt wurde, als Pina es mit ihm entwickelte? Es ging ihr nie um die Ästhetik, um das „Richtigmachen“ sondern um den Kern der Erzählung. Es gibt ja Videoaufzeichnungen, die die Schrittfolgen dokumentieren, das könnte man nachmachen, aber darum ging es Pina nie.

Claudia Lenssen:
Wie sind die Szenen in der Stadt, in der Schwebebahn, in der Landschaft entstanden?

Wim Wenders:
Die Tänzer haben auf meine Fragen nach ihrer Erinnerung an Pina Antworten gesucht. Sie sollten nicht mit Worten sondern mit Bewegung antworten. So haben sie mir etwas erzählt, was jedem von ihnen in der Zusammenarbeit mit Pina am wichtigsten war: die engste Beziehung, die sie in der Arbeit mit ihr erfahren haben, der Schnittpunkt, an dem sie nah mit ihr verbunden waren. Diese getanzten Erinnerungen führten sie mir im Probenraum vor, ich trug diese Szenen nach außen und orientierte mich dabei an Pinas einzigem Film „Die Klage der Kaiserin“, in dem sie mit den Tänzern in die Stadt gegangen war. Die Statements der Tänzer zu Pina habe ich auf diese Weise nach draußen in die Landschaft, die Stadt und in Industriegebäude gebracht. Wenn man so will, ist es eine Öffnung und Weiterentwicklung oder vielmehr eine Zusammenführung.

Claudia Lenssen:
Die Landschaft, die Stadt Wuppertal erscheinen im 3D-Format fast irreal schön. Was geschieht in solchen Bildern mit dem Ruhrgebiet, das ja eigentlich von der Industrie und deren Zerfall hässliche Narben trägt?

Wim Wenders:
Ich kenne keine andere Landschaft in Deutschland, in der eine solche Verwandlung betrieben wurde wie im Ruhrgebiet – von der harten Realität der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert über eine Ausbeutung sondergleichen im 20. Jahrhundert findet jetzt ein Umbruch hin zu einer Kulturlandschaft statt. Es ist eine Landschaft, die das alte Erbe trägt, aber in etwas Neues hinüberbringt und – wie soll man es sagen?…

Claudia Lenssen:
…transformiert?

Wim Wenders:
Ja, hin zu einer merkwürdig utopischen Landschaft. Sie erzählt die Geschichte, wie sich die Arbeit vom 19. zum 20. Jahrhundert verändert hat, wie sie von der manuellen Arbeit und physischen Ausbeutung langsam zu virtueller Arbeit hinführt, bei der keine Kohle mehr gefördert und kein Stahl geschmolzen wird. Die Umformung unserer Kultur vom 19. zum 20. Jahrundert und bis in unsere Gegenwart ist nirgendwo so sichtbar wie im Ruhrgebiet, das ist abenteuerlich. Das ist mit unserem Film herausgekommen. Es war nicht der eigentliche Zweck des Films, aber es ist uns gelungen.